Montag, 11. Juni 2018

Das Märchen von den Bleiläusen


Es war einmal ein Stift (Lehrling) in einer großen Druckerei in Bremen. Diese Druckerei war über die Stadtgrenzen hinaus bekannt für Verpackungen für die Tier- und Nahrungsindustrie und zahlreiche maritime Bücher. Unser Lehrling war im ersten Lehrjahre, als ihn eines Tages ein Altkollege zu sich rief. 
"Du bist ja nun schon ein halbes Jahr bei uns. Wie ich höre, kommst du gut voran. Hast du denn schon einmal etwas von den Bleiläusen gehört?"
Zur Antwort schüttelte der nur stumm den Kopf. Der Stift - ein echter Setzerlehrling - war ein schüchterner schlanker Junge von 17 Lenzen und ging seinem Lehrherren Heinz Debrassine gern zur Hand. Gegenüber den Altkollegen galt er stets als freundlich und hilfsbereit.
Bruno Wellbrock, so der Name dieses alten Kollegen, war ein ergrauter Kriegsveteran, der aus dieser Zeit ein Gebrechen mit sich herumschleppte. Eine Gewehrsalve hatte seinen Körper so stark in Mitleidenschaft gezogen, daß er ein Korsett tragen musste. Würde er das nicht tun, könnte er nicht mehr stehen.
So hob der 60jährige erneut an und blickte den Stift mit (scheinbar) freundlichen Augen an:
"Nun, ich will dir die Bleiläuse gerne zeigen. Wenn man sich Mühe gibt, kann man sie sogar mit bloßem Auge sehen. Schau her, ich habe hier schon ein Experiment vorbereitet."
Der Stift sah den Kollegen mit großen Augen an, als dieser ihn zu seinem Schiff herüberwinkte. Nun muss man aber sagen, daß dieses Schiff kein Boot war. So bezeichnete man in diesem Berufszweig die Metallplatten mit den Stahlschienen an drei Seiten. Darauf wurden ausgeschlossene Handsatz- und Maschinensatz-Zeilen rechtwinklig gesetzt. Daher der Name Schriftsetzer.
Bruno hatte auf seinem Schiff einige Stege nebeneinander liegen. Es sah so aus, als ob er nur die Buchstaben herausgenommen hatte. 
"Komm nur näher, Oli. dann kannst du sie bestimmt sehen..."
Der Stift blickte auf die Stege, konnte aber nichts erkennen.
"Ich sehe aber nichts..."
"Du musst ganz nah ran, vielleicht geht es besser wenn du deine Brille abnimmst? Die Läuse sind ja nur etwa so groß wie ein Stecknadelkopf."
Und Oli nahm die Brille ab und ging mit seinen Augen ganz nah heran. Und ohne daß es Oli gewahr wurde, presste Bruno die beiden Stege ruckartig zusammen - Klack!
Im selben Moment schoss eine kleine Wasserfontäne in die Augen des einfältigen Stifts. Erschrocken und überrascht zuckte er zusammen und fuhr entsetzt zurück.
Bruno aber fing laut und schallend an zu lachen. Nachdem er sich beruhigt hatte, meinte er:
"Na, hast du die Bleiläuse nun gesehen?"
Statt einer Antwort blickte der Stift den Altkollegen grimmig an, wandte sich um und ging zurück an seinen Arbeitsplatz. Beschämt und gesenkten Hauptes  - sehr wohl wissend, daß die anderen Kollegen und auch sein Lehrherr ihn beobachteten - führte er seine Arbeit fort, die ihm sein Meister aufgegeben hatte. 
Gekränkt in seiner Ehre beschloss der Stift, niemals mehr diesem Altkollegen helfen zu wollen, geschweige mit ihm zu reden oder ihn gar nur anzuschauen.

(Siehe hierzu auch einen Beitrag in Wikipedia. Dieser Bericht ist also keineswegs aus der Luft gegriffen.)

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